Ukrai­ne: Sor­gen über rus­si­schen Auf­marsch an den Grenzen

Ukraine - Flaggen - Statuen - Gebäude - Fahne - Flagge Foto: Die Flagge der Ukraine, Urheber: dts Nachrichtenagentur

Die USA, Deutsch­land und die Ukrai­ne machen sich Sor­gen über rus­si­sche Trup­pen­be­we­gun­gen an der ukrai­ni­schen Grenze.

Washing­ton erwar­tet einen Über­fall, in Ber­lin und Kiew dage­gen glaubt man eher an Mos­kau­er Ein­schüch­te­rungs­ver­su­che als an Kriegs­ab­sich­ten. US-Außen­mi­nis­ter Ant­o­ny Blin­ken hat die ame­ri­ka­ni­schen Sor­gen am 10. Novem­ber 2021 in die Wor­te gefasst, er sei „beun­ru­higt” über rus­si­sche Mili­tär­ak­ti­vi­tä­ten an der ukrai­ni­schen Gren­ze. Er fürch­te, Russ­land kön­ne „einen erns­ten Feh­ler machen” und wie­der­ho­len, „was es 2014 getan hat, als es Trup­pen an der Gren­ze zusam­men­zog und in sou­ve­rä­nes ukrai­ni­sches Gebiet eindrang”.

Wie die „Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Sonn­tags­zei­tung” (FAS) schreibt, fürch­tet Washing­ton einen Angriff im Dezem­ber, wenn in Ost­eu­ro­pa die Böden gefrie­ren und Pan­zer nicht mehr im Schlamm ver­sin­ken. In Washing­ton und Ber­lin ist wahr­ge­nom­men wor­den, dass Russ­lands Prä­si­dent Wla­di­mir Putin sei­ne Hal­tung zur Ukrai­ne ver­schärft hat. Bis­her galt, dass erst ein for­mel­ler Bei­tritt des Lan­des zur NATO in Mos­kau als „rote Linie” gese­hen wer­de. Im Okto­ber aber hat Putin auf einer Tagung des „Wald­ai-Klubs” gesagt, auch wenn die Ukrai­ne nie der NATO bei­tre­te, sei die „mili­tä­ri­sche Expan­si­on” des Wes­tens dort „eine Gefahr”. Letz­ten Don­ners­tag sprach er wie­der von roten Lini­en und sag­te, Russ­lands west­li­che Part­ner eska­lier­ten die Lage, indem sie „töd­li­che” Waf­fen an Kiew lie­fer­ten und „pro­vo­kan­te” Manö­ver im Schwar­zen Meer abhielten.

In Ber­lin wird das nach Infor­ma­tio­nen der FAS so gedeu­tet, dass Russ­land die bis­her übli­chen bila­te­ra­len Übun­gen Ame­ri­kas oder Groß­bri­tan­ni­ens mit der Ukrai­ne sowie die Lie­fe­rung ame­ri­ka­ni­scher Pan­zer­ab­wehr­waf­fen nicht mehr dul­den will. Ber­lin ist zwar auch besorgt über rus­si­sche Trup­pen­ver­stär­kun­gen, sieht aber nach Anga­ben aus Sicher­heits­krei­sen kei­ne aku­te Kriegs­ge­fahr. Die ukrai­ni­sche Füh­rung denkt ähn­lich. Das geht aus einer Stel­lung­nah­me her­vor, die der ers­te stell­ver­tre­ten­de Sekre­tär des Natio­na­len Sicher­heits- und Ver­tei­di­gungs­ra­tes, Rus­lan Demt­schen­ko, der FAS geschickt hat. Er schreibt, die „Gefahr einer Inva­si­on der rus­si­schen Streit­kräf­te in die Ukrai­ne” sei zwar „erhöht”, aber im Augen­blick sei es nicht mög­lich, „eine Aus­sa­ge dar­über zu tref­fen, wie hoch der Grad der mili­tä­ri­schen Vor­be­rei­tun­gen des Kremls ist”.

Bei­spiels­wei­se fie­len im Ver­gleich zum Früh­jahr, als Russ­land schon ein­mal die Ukrai­ne durch einen Trup­pen­auf­marsch beun­ru­higt hat­te, die Manö­ver vom Okto­ber und Novem­ber „an Zahl und Inten­si­tät gerin­ger aus”. Demt­schen­ko schrieb, Mit­te Novem­ber habe die Ukrai­ne jen­seits ihrer öst­li­chen und nörd­li­chen Gren­ze etwa „2.500 Ein­hei­ten” rus­si­schen mili­tä­ri­schen Groß­ge­räts iden­ti­fi­ziert. „Im Mai waren es 6.000.” Ein Teil der neu­en rus­si­schen Trup­pen ist nach der Dar­stel­lung Demt­schen­kos „aus Sibi­ri­en her­an­ge­schafft” wor­den. Das gilt auch in Ber­lin als plau­si­bel. Heu­te lie­gen die­se Ein­hei­ten, die zur 41. Armee aus Nowo­si­birsk gehö­ren sol­len, offen­bar in der west­rus­si­schen Stadt Jelnia.

Auch der frü­he­re bei­geord­ne­te Gene­ral­se­kre­tär der NATO, Gene­ral­leut­nant Hein­rich Brauß, sowie der Mili­tär­fach­mann Andras Racz von der Deut­schen Gesell­schaft für Aus­wär­ti­ge Poli­tik, bestä­ti­gen eine wach­sen­de rus­si­sche Mili­tär­prä­senz an den ukrai­ni­schen Gren­zen. Racz erwähnt außer den sibi­ri­schen Trup­pen Ver­stär­kun­gen bei der ach­ten rus­si­schen Armee öst­lich der Ukrai­ne und bei der 22. Armee im Nor­den des Lan­des. „Hier sind in den letz­ten Jah­ren neue Divi­sio­nen und Stütz­punk­te geschaf­fen wor­den, mit mehr Sol­da­ten und mehr Mate­ri­al als frü­her.” Racz lei­tet dar­aus aber kei­ne unmit­tel­ba­re Kriegs­ge­fahr ab. Der FAS sag­te er, die Ent­wick­lung sei zwar „besorg­nis­er­re­gend”, aber sie hei­ße „nicht unbe­dingt, dass wir unmit­tel­bar vor einer mili­tä­ri­schen Eska­la­ti­on stehen”.

Viel­mehr set­ze sich hier ein „Trend” zur Ver­stär­kung fort, den Russ­lands Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Ser­gej Scho­j­gu schon vor Jah­ren ange­kün­digt habe. Auch Demt­schen­ko vom Natio­na­len Sicher­heits- und Ver­tei­di­gungs­rat der Ukrai­ne weist dar­auf hin, dass Russ­lands Vor­ge­hen mit den längst bekann­ten „Pos­tu­la­ten” der rus­si­schen Mili­tär­füh­rung „voll­kom­men im Ein­klang” ste­he. Ihre Metho­de sei dabei ein „hybri­der Krieg”, in dem der Geg­ner durch die „Dro­hung einer mili­tä­ri­schen Inva­si­on” mani­pu­liert wer­de. Gene­ral Brauß nennt der FAS drei mög­li­che Zie­le für den Auf­wuchs der letz­ten Jah­re. „Ers­tens Ein­schüch­te­rung der ukrai­ni­schen Regie­rung”, um die Annä­he­rung des Lan­des an den Wes­ten zu stop­pen. Zwei­tens „eine begrenz­te Ope­ra­ti­on in der besetz­ten Ostukraine”.

Dabei kön­ne Putin sei­nen Zugriff auf die pro­rus­si­schen Satel­li­ten­re­pu­bli­ken in der ost­ukrai­ni­schen Regi­on Don­bass fes­ti­gen und die Ukrai­ne wei­ter desta­bi­li­sie­ren. „Die drit­te Opti­on wäre ein neu­er groß ange­leg­ter mili­tä­ri­scher Vor­stoß in die Ukrai­ne hin­ein, um bei­spiels­wei­se eine Land­ver­bin­dung zur Krim her­zu­stel­len.” Brauß meint zu die­ser Mög­lich­keit eines gro­ßen Krie­ges, die Gefahr sei zwar da, aber weil Kiew mitt­ler­wei­le eine star­ke Armee habe, müs­se Putin mit hohen Ver­lus­ten rech­nen. „Des­halb mag die­se drit­te Mög­lich­keit viel­leicht wirk­lich nicht sehr wahr­schein­lich sein.” Die­se Fol­ge­rung wird von Beob­ach­tun­gen gestützt, die der frü­he­re Kom­man­deur der ame­ri­ka­ni­schen Land­streit­kräf­te in Euro­pa, Gene­ral­leut­nant Ben Hod­ges, gemacht hat.

Er sag­te der FAS zwar, heu­te sei er „noch besorg­ter als im Früh­jahr”, aber er stell­te auch fest, dass bestimm­te Vor­aus­set­zun­gen für eine rus­si­sche Mili­tär­ope­ra­ti­on noch nicht sicht­bar sei­en: gro­ße Lager für Treib­stoff und Muni­ti­on, ein Feld­kran­ken­haus oder Luft­lan­de­trup­pen. Außer­dem fal­le auf, dass Russ­land sei­ne Ein­hei­ten nicht ver­ste­cke. Hod­ges strich her­aus, dass das US-Mili­tär sei­ne Aus­rüs­tung nie­mals „so expo­nie­ren” wür­de, wie es auf den Satel­li­ten­bil­dern aus Russ­land zu sehen sei. Das könn­te dar­auf hin­deu­ten, dass Mos­kau bewusst Bot­schaf­ten sende.